Kaum hat das Werk begonnen, kommt es auch schon zum ersten sexuellen Höhepunkt - einer von vielen – wie ich gleich einige Seiten später erfahre. Mit Leocardias und des Soldaten starken wienerischen Akzent fühlte ich mich auch gleich mitten in Wien angekommen. Aber was ist denn dieser Soldat für ein Mistkerl: Erst lässt er sich nur auf Leocardia ein, als es hiess, er bekäme es um sonst und kaum ist der Sex vorbei, will er rein gar nichts mehr von ihr wissen! Noch unsympathischer wird er mir aber gleich im Umgang mit Marie, dem Stubenmädchen. Nicht genug, dass er sie vom Tanz wegführt, obwohl sie so gern tanzen würde. Nein, kaum sind sie in der Dunkelheit der Alleen angekommen, nimmt er sie und vergewaltigt sie regelrecht. War das um die Zeit um 1900 wohl wirklich gang und gäbe? Es wird immer schlimmer mit diesem Kerl. Nun hat er nicht einmal mehr den Anstand, ihr nach dem Geschlechtsverkehr auf die Beine zu helfen, geschweige denn, sie heim zu geleiten. Dieser egoistische und verlogene Kerl denkt nur an sich und sein Vergnügen und will wieder zurück zum Prater. Aber auch über Marie wundere ich mich ziemlich: Warum schreibt sie nun «einen Brief an den Soldaten, der ihr Geliebter ist» (S. 19, Z. 4-5) Von Liebe konnte man ja vorher weiss Gott nicht sprechen. Vielleicht ist aber auch gar nicht der selbe Soldat gemeint. Vielleicht liegt auch eine viel grössere Zeitspanne zwischen diesen Treffen, als angenommen. Wie dem auch sei, auch sie gehört in den Kreis der Beziehungsbetrüger. So geniesst sie einerseits die Aufmerksamkeit Alfreds, mit Seufzer kommentiert sie seine Anmache und richtet vor dem Spiegel sogar ihre Frisur, während es ihr als es ernster wird offensichtlich immer unangenehmer wird. Jedenfalls finde ich die Anmachsprüche äusserst amüsant. «Nur wegen Ihrer Bluse … Was ist das für eine … Na, kommen S’ nur näher. Ich beiss Sie ja nicht.» (S. 22, Z. 3-4) Dieses «Ich beiss ja nicht» scheint also schon damals eine gängiger Annäherungstrick gewesen zu sein. Die vierte Szene lässt bei mir einige Fragen offen. Klar ist, dass wir uns auch hier in den Räumlichkeiten des jungen Herrn Alfreds befinden. Sind es aber die gleichen wie vorhergehend? Wahrscheinlich nicht. Schliesslich scheint es, dass er alleine im Haus ist, während er vorher das Haus mit den Eltern und Bediensteten teilte. Andere Frage: Was sucht diese Schildkrothaarnadel in seinem Nachtkästchen? Befinden wir uns etwa in speziellen Räumlichkeiten, in denen er seinen Damenbesuch empfängt? Höchst unterhaltsam ist auch zu lesen, wie jegliche Versuche Alfreds, das Appartement schön her zu richten, kläglich scheitern. Emma findet das Haus schrecklich, stickig und will gleich wieder gehen. Schon damals konnte Mann es Frau also kaum recht machen. Die grösste Frage dieses Kapitels ist aber eindeutig, welche Abmachung die beiden vereinbart haben. Was hat Emma versprochen? Zu was wurde sie genötigt? Himmel, was soll dieses schreckliche Rollenbild! Warum müssen sich Männer nur immer für etwas besseres halten. Warum bilde(te)n sie sich ein, andere Rechte zu haben? Warum um Gottes Willen, soll eine Frau keusch bei Mutter und Vater auf ihren einzigen und ewigen Ehemann warten, während dieser treibt, was er will?! Auf die Spitze treibt mich dieser Karl aber mit seiner brechreizerregender Versprechens-Einforderung an das Mädel: «Also – wenn du mich liebhaben willst – nur mich – so können wir’s uns schon einrichten (…)» (S. 71, Z. 9-10) Was bildet sich dieser Typ ein, einer jungen, hübschen und von ihm abgefüllten Frau ein solches Versprechen einzufordern, während er selbst schamlos seine Ehefrau betrügt. Was bin ich froh, lebe ich nicht in dieser Zeit und auch an keinem Ort mit solch antiquierten Rollenbildern! Dieser Ehemann oder im darauffolgenden Kapitel Gatte genannt, wirkt auf mich ohnehin äusserst speziell. Genauso wie seine Namensbezeichnung switcht auch sein Verhalten, seine Moral und seine Einstellung zur Liebe zwischen den beiden Szenen komplett. Erst ist er seiner Frau gegenüber komplett verschlossen in Hinsicht auf seine Vergangenheit, dann quetscht er selbst das junge Mädel über die Ihre aus. Ebenfalls verurteilt er anfangs Ehefrauen, die ihre Männer betrügen aufs Gröbste, während er genau das selber macht. Vielleicht meinte er mit: «Alles hat seine Zeit in der Ehe» (S. 53, Z. 17), ja genau, das. Dass auch sein Betrug Platz hätte und macht so bereits vorhergehend ein verstecktes Geständnis an seine Frau. Der nächste Witzbold in der Reihe ist unser angeberischer Dichter oder eben doch nicht Dichter? Urheberrecht scheint ihm ohnehin ein Fremdwort zu sein, «Überhaupt wer’s gemacht hat, das ist immer egal. Nur schön muss es sein – nicht wahr?» (S. 73, Z. 36-37). Diesen Spruch, werd ich bei meiner nächsten Schularbeit auch raushauen, mal schauen, ob dies meine Lehrer auch so überzeugt;) Jetzt eine kleine Hilfe, für alle Nicht-Österreicher, wie mich: «Geh» heisst nicht etwa jemand soll weg gehen, sondern es handelt sich vielmehr um eine Art Floskel wie etwa «aber nein» oder «ach was». Bis ich das gerafft habe! Doch solche kleinen Missverständnisse und Eigenheiten der Sprache lockern doch die ganze Geschichte immer wieder etwas auf und erweitern zusätzlich den eigenen Sprachhorizont. Die Schauspielerin ist in meinen Augen bis jetzt die erste emanzipierte Frau dieses Werkes. Eine wahre Power-Frau: Sie hat Beruf, ist selbstbewusst und fühlt sich den Männern keinerlei unterlegen. Leider treibt sie das mit der emanzipierten Power-Frau zu sehr auf die Spitze. Sie verhält sich nämlich kein Stück besser als ihre männlichen Zeitgenossen. Ebenso betrachtet sie das andere Geschlecht nicht als gleichwertig, sondern hält die Zügel der Beziehung fest in der Hand. Sie bestimmt eigensinnig und selbstsicher, wenn nicht sogar selbstverliebt, über ihre Partner. Auch dünkt es mich, ist sie nicht nur auf der Bühne Schauspielerin. Ist ihre Gottestreue genauso, wie die mehrjährige Ehe mit ihrem verstorbenen Exmann Fritz nur Teil ihres spontan erfundenen Theaterstückes «Wie verarsch ich am besten einen Dichter»? Nun ja, dieser macht aber auch prächtig mit und lässt sich von ihr reichlich Mist auftischen. Dennoch glaube ich, hat er etwas in ihr entdeckt, was sie sich selbst entweder nicht eingestehen will oder kann. Auch sie träumt von der wahren Liebe.
Ade, Lieb, ich kann nicht weinen: Verlier ich dich, ich weiss noch einen. (deutsches Sprichwort)
So stell ich mir die Gedanken dieser Schauspielerin vor. Klappt’s beim Einen nicht, so stehen die Nächsten doch sowieso schon Schlange. Und da kommt er auch schon der gute Herr Graf, eingelassen von der Frau Mama. Wohnt die angeblich so erfolgreiche Schauspielerin etwa immer noch bei Mami und Papi? Immer mehr bestätigt sich mir der Verdacht, dass die Geschichte von ihrem Ehemann Fritz, ihrer grosser Liebe und dem gemeinsamen Heim des Paares nur Ausspruch eines Hirngespinsts oder vielleicht auch eines innersten Verlangens der Schauspielerin war. Zurück zum Grafen. Immerhin dieser Mann versteht noch etwas von romantischer Stimmung: Abholen vom Theater, ein gutes Abendessen und dann ohne Stress abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Doch offensichtlich kann sich die Schauspielerin nicht gedulden und hat auf ihr Angebot von einem freien Wunsch für den Graf schon eine konkrete Antwort im Sinn – Sex, hier und jetzt! Doch nicht genug. Als ihr dieser Wunsch erfüllt wurde, will sie gleichwohl ein weiteres Treffen am selben Abend. Der Graf scheint aber auch in einer weiteren Hinsicht einzigartig zu sein. Bisher als einziger spricht er von seiner Seel und hat klare Vorstellungen, wie ein gesittetes Treffen abläuft. Aber was ist eigentlich mit diesem Fräulein Birken, mit dem die Schauspielerin ihn ständig aufzieht? Warum meint die Schauspielerin es sei seine Geliebte, während er sie kaum kennen will? Ist auch das nur wieder ein reiner Anmachversuch oder steckt mehr dahinter. Die Rolle als wohl spekulationsvollste Person der Geschichte gehört aber dem Lulu. Erst könnte man meinen, er sei bloss ein Kollege des Grafen. Doch «Lulu» ist nicht etwa ein normaler Name, sondern steht als Koseform des Namens Louis und bedeutet Liebling oder Herzchen. Ha! Habe ich hier etwa ein bisexueller Graf der Vergangenheit gefunden?! Toll, dass auch das in diesem Buch Platz findet. Vielleicht ist er aber auch nur schwul und steht kein Stück auf Frauen, sondern wird durch die Gesellschaft und speziell durch die Schauspielerin gegen seinen inneren Willen in eine heterosexuelle Beziehung gedrückt. Wer weiss, wer weiss…
Obwohl er in der nächsten Szene im Zimmer einer Dirne aufwacht, bin ich mir immer sicherer, dass er eigentlich schwul ist, die zeitlichen und gesellschaftlichen Umstände ein Outen aber nicht zulassen. Warum ich so denke? Ganz einfach: Schon wieder spricht er von diesem Lulu und wie sie zusammen ins Hurenkaffeehaus gingen. Klar, dass sie überhaupt dorthin gingen könnte meine ganze Theorie wieder über den Haufen werfen, aber auch dafür habe ich eine Erklärung. Es könnte so sein, die beiden können sich in der Öffentlichkeit normalerweise wohl kaum problemlos sehen. Doch im Hurenkaffeehaus ist das ganz anders. Alle sind betrunken, es ist dunkel und alle anderen sind mit ihrem eigenen Partner beschäftig. Doch wahrscheinlich kam dann auch beim Grafen der Punkt, an dem er so betrunken war, dass selbst er mit einem Frauenzimmer mitging. Viel mehr geschehen, ist ja tatsächlich nicht. Auch in dieser Szene spricht er wieder von seiner Seel. Vielleicht weil es sich für einen Mann seines Gleichen schlichtweg nicht gehört, bei einer Dirne zu nächtigen. Vielleicht aber auch, weil er sich selbst, sprich sein schwulen Ich, betrogen hatte. Was meint er wohl mit: «Wenn man nicht wüsst, was sie ist! (…) Ich hab viel kennt, die haben nicht einmal im Schlafen so tugendhaft ausg’sehn. (…) der Schlaf macht auch schon gleich, kommt mir vor; - wie der Herr Bruder, also der Tod.» (S.112, Z. 11- 17)
Ich hoffe doch sehr, dass dieser Rausch, Vergnügen, Laune oder wie auch immer die Figuren ihre Beziehung bezeichneten, in der heutigen Zeit immer mehr zu Liebe umschlägt. Umschlägt zu einer Beziehung in Liebe, Vertrauen und Ehrlichkeit auf gleicher Augenhöhe. Man könnte sagen, dieses Werk hält der Gesellschaft (und nicht nur der um 1900) den Spiegel vors Gesicht. Es zeigt unverhüllt die tagtäglichen Verhältnisse und lässt uns der Wahrheit ins Auge blicken – ohne Wertung, ohne direkte Kritik. Die Kritik gegenüber diesem Stück kommt von den Zuschauern, die sich selbst vielleicht wiedererkennen, es aber nicht wahrhaben wollen. Dieses Werk gibt uns die Möglichkeit uns zu fragen, ob diese verlogene, betrügerische und lieblose Gesellschaft wirklich die ist, in der wir leben wollen. Es gibt uns die Chance zur Erkenntnis und zur Änderung.