Reigen als Spiegel der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts
Das Werk „Reigen“ befasst sich mit den Themen Liebe, Ehe und Sexualität, die stark durch den Zeitgeist des Fin de Siècle und die Moralvorstellung der bürgerlichen Gesellschaft geprägt wurden. Die zehn Dialoge zeigen den Wiederspruch zwischen den starren, traditionellen gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen, wie sie vor allem von der bürgerlichen Gesellschaft aufrecht erhalten wurde und dem tatsächlich gelebten Leben der Bürger auf. Während die Männer nach den Moralvorstellungen der damaligen Zeit in vorehelichen Affären ihrer Sexualität freien Lauf lassen konnten, war die Frau dazu verpflichtet ihre Tugend und somit ihre Jungfräulichkeit zu wahren. Die Ehre einer Frau konnte nur aufrechterhalten werden, wenn keinen vorehelichen intimen Kontakt stattfand. Das Ansehen eines jungen Mannes hingegen stieg mit der Zahl seiner „Eroberungen“. Bürgerliche Männer tätigten oftmals „Beutezüge“ ausserhalb der eigenen Kreise und sammelten Erfahrungen mit Frauen aus tieferen sozialen Schichten oder mit verheirateten Damen, welche einen besonderen prickelnden Reiz der zwischenmenschlichen Konkurrenz und des Vergnügens des Verbotenen ausstrahlten. (Grin, 2019) Das oben genannte lässt sich exemplarisch am Dialog zwischen dem Stubenmädchen und dem Soldaten aufzeigen. Der Soldat als männlicher Part wirbt um die Gunst des Stubenmädchens, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Das Stubenmädchen weisst die Annäherungsversuche des Soldaten erst zurück, obschon sie bereits beim Verlassen der Öffentlichkeit in die intime Liebelei im Park eingewilligt hat und sich dieser letzten Endes auch ergibt. Somit wiederspricht sich das Stubenmädchen selbst, was darauf hinweist, dass die Zurückweisung der Annäherungsversuche auf ein konventionelles Rollenverhalten zurückführt, aber nicht mit der eigenen Überzeugung übereinstimmt. Das Stubenmädchen und der Soldat verhelfen sich mit einem unausgesprochenen Einverständnis zu einem Sexualakt den beide wollten. Das Stubenmädchen spielt die Unschuldige, in dem sie so tut, als wisse sie nicht, worin dies endet und sichert sich somit die Möglichkeit, ihre Hingabe als Verführung zu entschuldigen. „ Ah, was machen S’ denn? Wenn ich das gewusst hätt!“ (Arthur Schnitzler, Reclam, Reigen, 2014, S.13 Z. 2) Somit wahrt das Stubenmädchen nach aussen den Anschein der Anständigkeit und Naivität, was der Rollenvorstellung der Frau dieser Zeit entspricht. Ihr Handeln nach dem Koitus manifestiert dieses rollengerechte Verhalten. So möchte das Stubenmädchen die Bestätigung des Soldaten, dass er sie liebt. „Sag wenigstens, hast mich gern?“ (Arthur Schnitzler, Reclam, Reigen, 2014, S. 16 Z.12) Um den triebhaften Geschlechtsakt in einen Akt aus Liebe zu verwandeln und damit ein gewisses moralkonformes Verhalten zu waren. Dies bestätigt meine zu Beginn aufgestellte These zumindest in Bezug auf den Dialog zwischen dem Stubenmädchen und dem Soldaten. Im Dialog zwischen der Dirne und dem Soldaten oder zwischen der Schauspielerin und dem Grafen können Abweichungen zum konventionellen Rollenverhalten erkannt werden.
Frauenbild des späten 19. Jahrhundert
Der Schriftsteller Arthur Schnitzler beendete sein Werk Reigen im Jahr 1897. Das Drama löste zu seiner Zeit einen grossen Aufruhr aus und war einer der grössten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts. Schnitzlers Werk schildert in zehn Dialogen den Beischlaf zwischen fünf Männern und fünf Frauen. Dabei wird der eigentliche Geschlechtsverkehr lediglich durch Gedankenstriche gekennzeichnet und nie in Worte gefasst. Das Ganze spielt sich in und um Wien ab. Besonders an diesem Stück ist, dass alle soziale Schichten der damaligen Zeit durch verschiedene Figuren vertreten werden. (Wikipedia, 2019) Überdies sieht man im Stück die verschiedenen Rollen einer Frau zu dieser Zeit. Dabei wird ziemlich deutlich, dass eine Frau, die bereits vor der Ehe sexuellen Kontakt mit einem anderen Mann hatte, schlechter in Verruf der Gesellschaft gerät. Der Ehegatte gegenüber seiner Frau, dass die Frauen durch ihren reinen Beitritt in die Ehe, einen besseren Blick als die Männer haben, wenn es um das Thema Liebe gehe. Zudem ist er der Meinung, dass die Männer ganz verwirrt und unsicher sind, weil sie schon vor der Ehe sexuelle Erfahrungen mit Frauen gesammelt hätten. Dabei muss man beachtet, dass er dies so darstellt, als wären die Männer Opfer ihrer Triebe. Ausserdem stellt er die Frauen, mit denen er sich vor der Ehe begnügen musste, als bedauernswerte Wesen dar (S.45-46). Im Dialog zwischen der jungen Frau und dem Ehemann, werden Frauen, welche vor der Ehe Sex mit einem Mann haben, als Geschöpfe und bedauernswerte Wesen bezeichnet. Die junge Frau weisst ihren Mann einige Male zurecht und versucht auch, den Mann auf seinen Fehler hinzudeuten. Einmal widerspricht sie ihm und fragt, ob es den Frauen nicht gut gehen würde und wieso man sie bedauert müsse (S.46). Doch ihr Ehemann vertritt eine ganz andere Ansicht und lässt sich auch nicht davon abbringen. Er ist der felsenfesten Überzeugung, dass solche Frauen dazu bestimmt sind, immer tiefer und tiefer zu fallen (S.46). Seine Frau, die ihn selbst betrogen hat (ein Dialog davor, mit dem jungen Herrn), weiss das ihr Mann unrecht hat. Im Text wird klar ersichtlich, dass die Frau auch von ihren Trieben geleitet wird. Daraus kann man schliessen, dass auch Frauen sexuelle Triebe verspüren, was dem Ehemann nicht in den Sinn gekommen zu sein scheint. Eine Anspielung darauf kann man feststellen, als die junge Frau ihren Mann klarstellte, seine Geliebte sein zu wollen. Die Frau macht einige Andeutungen auf ihr Bedürfnis, wobei sie einmal das Wort Vergnügen erwähnt. Ihr Mann korrigiert sie daraufhin und meint es sei ein Rausch und kein Vergnügen (S.50). Nur ist dem Mann nicht bewusst, dass seine Frau aus eigener Erfahrung spricht. Das verdeutlicht nur noch mehr, dass Frauen vor der Ehe und während der Ehe treu sein müssen. Ihrem Mann kommt es nicht mal in den Sinn, seine Frau zu hinterfragen. Hierbei kommt die Naivität des Mannes gut zum Ausdruck. Im letzten Dialog fragt der Graf der Dirne, ob sie den mit ihrem Leben glücklich sei. Die Bekanntgabe der Dirne darauf zeigt, dass sie ihren Beruf gewollt hatte und nicht aus finanziellen Gründen die Tätigkeit durchführt (S.116). So ist die Aussage des Ehemannes falsch. Denn dieser ist der Meinung, dass es solchen Frauen elendig im Leben gehen müsse, wenn sie eine solche Tätigkeit ausüben. Im Buch werden die Frauen unterschiedlich dargestellt. Im Gegensatz zu der jungen Frau wird die Dirne als eine selbstständige Frau mit einer selbstbewussten Aura präsentiert. Sie scheut sich nicht davor, andere um den Beischlaf zu bitten. Ihre Stellung in der Gesellschaft wird aber dementsprechend auch tiefer gestellt, was man im Gespräch zwischen dem Soldaten und der Dirne feststellen kann. Der Soldat behandelt die Dirne auf einer ganz anderen Ebene, was im Vergleich zu der darauffolgenden Szene ersichtlich ist. Im Gegensatz zu der Dirne macht er sich beim Stubenmädchen die Mühe, ihr einiger Massen zu gefallen. Er wirbt um das Stubenmädchen und bietet ihr sogar das du an (S.13). Im Umgang mit der Dirne liess ihn das Gespräch nahezu kalt. Selbst der Abschied zwischen der Dirne und dem Soldaten verlief ganz anders als der Abschied zwischen dem Stubenmädchen und dem Soldaten (S.11 und S. 18). Die Zeit in der Arthur Schnitzler sein Werk Reigen geschrieben hat, war die Zeit der Wiener Moderne. Die verschiedenen Sichtweisen und die verschiedenen Rollen, der Figuren sind ein Indiz dafür. Schnitzler war sich zu seiner Zeit bewusst, dass sein Buch für seine Zeit keinen grossen literarischen Wert besass. Jedoch wusste er, dass sein Werk nach einigen Jahren, einen Teil ihrer damaligen Kultur beleuchten würde. Zudem pflegte Schnitzler selbst, den Kontakt zu Frauen vor seiner Ehe. Das lässt darauf schliessen, dass diese Frauen entweder noch keinen Ehemann hatten oder dass sie ihre Ehemänner betrogen, wie die junge Frau ihren Ehegatten betrog.
Durch die männlichen Figuren, wie der Soldat und der Ehegatte, sieht man deutlich, welches Bild man damals von Frauen hatte, die vor der Ehe mit einem Mann verkehrte. Für den Ehegatten gelten Frauen, die vor der Ehe mit einem anderen Mann verkehren, höchst verabscheuenswert. Das Verhalten des Soldaten zeigt, dass auch dieser etwas abwertend gegenüber der Dirne reagiert. Auch heute herrschen in einigen Ländern diese Art von Gedankengut. In einigen Ländern ist für die Frau Sex vor der Ehe strengstens untersagt. Genauso ist auch Sex mit einem anderen Mann während der Ehe verboten. Der Status der Frau wird auf Grund ihres sexuellen Verhaltens entschieden. Wird sie gut behütet und ,,rein’’ erzogen, so wird sie als wertvoller angesehen, als eine Frau, die ihre Jungfräulichkeit bereits vor der Ehe verloren hat.
Somit wiederspiegelt Reigen das Frauenbild des späten 19. Jahrhundert und leider teilweise auch jenes der heutigen Zeit.